Ofri-News

Nov 30, 2023

Friedenschaffen für die Ukraine mit Dr. Peter Brandt


Über 200 Teilnehmende nutzten auf Einladung von IG Metall, Remarque-Gesellschaft und OFRI die Möglichkeit, mit dem Wissenschaftler Dr. Peter Brandt über Friedenschaffen für die Ukraine ins Gespräch zu kommen. Nils Bielkine (2. Bevollmächtigter IG Metall) begrüßte die Versammlung mit dem Hinweis, dass sich in den Schützengräben zwei Brudervölker gegenüber lägen: "Aus unseren internationalen Zusammenkünften kennen wir Kollegen in Russland und in der Ukraine, die für gemeinsame Werte stehen und die sich gerade jetzt womöglich in den Schützengräben des Krieges zusammenschießen lassen müssen".

 

"Frieden schaffen", 23.11.2023, Haus der Jugend,  Prof. Peter Brandt

 

(Fotos: Heiko Schulze)

 

Prof. Peter Brandt erläuterte eingangs seine Friedenspositionen:

* Sowohl der Angriff Russlands am 24.02.2022 als auch die Besetzung der Krim 2014 waren und sind völkerrechtswidrig (letzteres "entsprach aber dem überwiegenden Willen der Bevölkerung auf der Krim").

 

* Der Krieg entstand nicht aus dem Nichts. Er hatte seinen Vorlauf  in vielen Handlungen und Ereignissen, die als "Ensemble" die hoffnungsvollen Signale nach der deutschen Einheit und die Eröffnung der Perspektive "Europäisches Haus inclusive Russland" durch Gorbatschow peu a peu zerstörten. In dessen Verlauf nahmen auch die autoritaristischen Züge des russischen Staates und von Putin immer mehr zu.

 

*Was die westliche Seite anbelangt, so erwähnte Brandt besonders den Bruch eines Versprechens: das Nicht-Vorrücken der NATO in Richtung  Osten, was alle westlichen Staatsführer  (von Baker bis Kohl) speziell im Zusammenhang mit der Einheit Deutschland zugesagt, aber auch nie schriftlich fixiert hatten ("beides ist wahr").

 

* Der Maidan 2014 war nicht nur eine Bewegung von vor allem Westukrainern in Gegnerschaft zu Moskau, sondern dieser Turn-around als "regime-change" wurde von westlichen Regierungen, die USA vorneweg, massiv unterstützt. Am Krieg im Donbass ab 2014 nahmen an der Seite von ostukrainischen, russlandfreundlichen Kombattanten auch schon russische Militärs teil - auf ukrainischer Seite kämpften offizielle ukrainische Armee-Einheiten, verstärkt von zuerst noch-"Sonder-/Para-Militärs" (s.u.: Rechter Sektor und andere Rechte sowie Ukraine-Nazis). Die eindeutige Parteinahme Pro-Ukraine in der westlichen Wahrnehmung war also bereits  in einem  sehr frühen Stadium als "Kampf um die Ukraine" gegeben. (Alles hatte also bereits einen ausgesprochenen Stellvertreter-Charakter zwischen Ost und West).

 

* Während der Diskussion  und auf eine Frage aus dem Publikum hin ging Brandt später auch auf Militante und Militärs ein, die sich an den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera orientieren, der für "faschistische bzw. extrem nationalistische Ukrainer" Nationalheld ist: Diese faschistischen bzw. offen rechten Kräfte hätten "bei Wahlen bisher recht wenig Einfluss erringen können", sind aber sowohl auf dem Maidan, auf der Straße und durch Einfluss-Strukturen des Staates, in Medien und massiv in der Öffentlichkeit immer präsent gewesen und noch präsent. Sie sorgen mittlerweile für viele Entscheidungen offizieller ukrainischer Politik, üben also  ihren Einfluss in der "Demokratie der Ukraine"  aus. Wie nachhaltig dieser Einfluss ist, wird die Zukunft zeigen.

 

* Dass Putin nicht  verhandeln wolle, sei eine unbewiesene Behauptung. Brandtverwies auf die durch westliche Intervention (Boris Johnson) verhinderte möglich Einigung schon in einem noch frühen Stadium des Krieges in Istanbul 2022. Gespräche mit China, afrikanischen Staatsführern oder Lula zeigten jedenfalls nicht das Bild eines russischen Präsidenten, mit dem kein Verhandlungsergebnis mit Kompromissen zu erzielen sei. Dagegen hat sich bis heute  der Westen die Maximalposition von Selenski zu eigen gemacht: "Nur" ein "Sieg über Russland" (die Krim und der Donbass müssen zurück zur Ukraine, also alles weit hinter Minsk 1 und 2 zurück; und die Ukraine wird Teil der Nato!) kann Putin zwingen  - das wird Putin nicht akzeptieren.

 

* Zweifelhaft sei die westliche Behauptung, die Ukrainer kämpften für unsere Freiheit. Und was den Grad an Freiheits- und sozialen Rechten in der Ukraine anbelangt, sei sie auf Tatsachen hin zu überprüfen: Es spräche viel dafür, dass die Ukraine eine oligarchisch-kapitalistische Gesellschaft und die Wirtschaft mit viel Korruption und einer defizitären Demokratie durchsetzt sei...

 

*... und dass der Westen 1990 und folgend eine einmalige Chance verpasst habe, beide Paktsysteme des kalten Krieges, u.U. durch Verschmelzung der Strukturen von NATO und OSZE, in ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu überführen. Das alles habe in Russland den Eindruck verfestigt, vom Westen betrogen worden zu sein - unabhängig davon, ob das stimme: Zumal vom Westen bereits (dreimal in fast einhundert fünfzig Jahren bis 1945) eine Geschichte des Einfallens in Russland bzw. die Sowjetunion mit bekannten Folgen vorliege.

 

* Eine öffentliche Meinungsmache versucht, mit einer (aggressiven) Pro-Nato-Linie Bevölkerung und politische Klasse  vor sich her zu treiben - Olaf Scholz ist selbst ein Getriebener der Bündnis-Loyalität, deutlich dokumentiert ein paar Tage vor dem Ukraine-Krieg  während eines gemeinsamen Interviews, in dem eine Journalistin Biden fragte, wie dieser denn ein von ihm angekündigtes Abstellen der russischen Gaslieferungen an Deutschland  erreichen wolle. Biden: "Wir werden dazu Mittel und Wege finden" - und was tat der Kanzler Deutschlands angesichts dieser offenen Infragestellung deutscher Souveränität "coram publico"? Nichts, außer betreten zu schweigen...

 

Momente/Elemente/Ideen eines möglichen Friedens und von Verhandlungen dazu:

 

* Ein Sieg durch die Ukraine ist vom Kräfteverhältnis her gesehen nach Stand 11/2023 wohl ausgeschlossen. Das war schon vorher absehbar - die überlegene technische Militärpower des Westens hat die Unterlegenheit vor allem wegen der Zahl der immer weniger mobilisierungsfähigen ukrainischen Soldaten, die diese Technik handhaben müssen, nicht ausgleichen können. Und das wird sich auch in den kommenden Monaten/Jahren (?) wohl nicht ändern, ist "unwahrscheinlich". Ein Verhindern von bzw. ein Sich-Sperren gegen Verhandlungen steigert nur die Zahl der Toten und das Elend auf beiden Seiten und besonders in der Bevölkerung  der Ukraine (- und je weiter nach Osten umso schlimmer).

 

*Es muss "Vorverständigungen" zwischen den beiden direkt kämpfenden Ländern und den indirekt am Krieg beteiligten (de facto-) Kriegsparteien geben.

 

* U.U. könne so ein Krieg (Korea in der frühen 1950er Jahren!) für lange Zeit eingefroren werden (auch wenn das nicht die beste aller Lösungen sei)...

 

* Deutschland und Frankreich müssen in Europa die Führung übernehmen: Diese beiden sind entscheidend für Europa - in Amerika scheint die gesamtgesellschaftliche Diskussion weiter zu sein (hat aber als Bereitschaft oder Machtwort noch nicht das Wollen entscheidender Teile der politischen Klasse erreicht: Biden, Blinken, O'Sullivan...)

 

* Als Noch-Kriegspartei müssen die dazu bereiten europäischen Mächte  mit  BRICS zusammen, aus BRICS heraus (statt sie immer wieder gegen Russland in Stellung bringen zu wollen) eine Kriegsbeendigungs-Sprache finden.

 

* Die "Integrität" der Ukraine (diese ohne Mitgliedschaft in der NATO - "sonst geht gar nichts") muss schlussendlich  von entscheidenden Teilen der für einen Friedensschluss fähigen Teile der Weltgemeinschaft garantiert werden.

 

*Krim und annektierte Ostukraine unter Kontrolle der UN und oder der OSZE und nach Rückkehr der Geflüchteten entsprechend dem Minsker Abkommen über Zugehörigkeit abstimmen lassen ( nach Zwischenfrage zu Minsk aus dem Publikum).

 

* Friedensbereite Teile der Weltgemeinschaft müssten als zukünftige Akteure, Promotoren und Begleiter für Friedensverhandlungen  ihre Waffenlieferungen nicht unbedingt einstellen, sie müssten sie aber auch nicht bedingungslos weiterliefern. Genaueres zu diesem Thema sei dann in einem Friedens-Abkommen zu regeln. In diesem Zusammenhang wies Brandt darauf hin, die Waffenlieferungen mancher Länder  für diese selbst schon bloße Symbolpolitik seien - sozusagen Zeichen einer zur Schau gestellten "Solidarität" für die Ukraine, die aber belastbar in der Realität nicht existiert - um bloß nicht mehr für sie wagen zu müssen (nämlich durch direkten Eintritt in den Krieg, wozu die Selenski, Melnyk und Kuleba  die europäischen Staaten aber immer treiben woll(t)en.

 

* In Bezug auf die Stellung der Ukraine in der künftigen Welt, nicht zuletzt auch in Europa und in deren künftigen Strukturen, war der folgende warnende Hinweis bezüglich des Eigeninteresses des Staates Ukraine durch Brandt zu hören: wie wolle eine zerstörte und heruntergekommene Ukraine  da überhaupt Bestand haben angesichts der brutalsten Zerstörungen nicht nur ihrer Human- Ressourcen, sondern auch ihrer technischen und produktiven Potenziale durch einen Krieg, der noch Jahre weitergeht.

 

 

Diskussion mit Bundestagsabgeordneten

Dr. Mathias Middelberg (CDU), Filiz Polat (Grüne) und Anke Henning (SPD) hatten wegen anderer Termine abgesagt. Mathias Seestern-Pauly (FDP) und Dr. Andre Berghegger (CDU) wurden vermisst.

 

Manuel Gava (SPD) ...

...grenzte sich insofern vom Osnabrücker Genossen, Verteidigungsminister Boris Pistorius, ab, dass er dessen Satz, Deutschland müsse sich kriegstüchtig machen, dahingehend abändern würde, es müsse verteidigungsfähig sein. Und er sehe eine eher zurückhaltende Haltung von Olaf Scholz  gegen das Sich-Überschlagen bei Forderungen nach immer mehr Waffen für die ukrainische Kriegsführung und das unter der Überschrift: "die Ukraine muss mit Waffen beliefert werden, damit sie sich verteidigen kann" - und das müsse mit Waffen geschehen, die dem Zweck "Verteidigung" und nicht der Angriffsfähigkeit auf Russland dienen. Entsetzt sei er wie seine Kollegin von der Linken Heidi Reichinnek gewesen, als eine Abgeordnete der Grünen während der Debatte um den Kampfpanzer Leopard mit einem Leopardenkostüm durch den Bundestag stolziert  sei. Den Satz, die Ukraine müsse gewinnen, lehne er ab. Und er halte es für möglich, dass Kanzler Scholz mit Putin telefoniert, "auch wenn das dann nicht in der Bildzeitung steht". Und:  Es werde einen Zeitpunkt für Verhandlungen geben. Gava, der wegen persönlicher Kontakte häufig in Brasilien ist "und das möchte ich auch als globalpolitische Aussage festgehalten sehen": Dieses riesige Land des globalen Südens habe nicht den europazentrischen Blick der alten Welt, es blicke auch nicht so zornig- emotional auf Russland (auch nicht auf China). Brasilien habe genug eigene Probleme, nicht zuletzt mit der "weißen Welt", und wolle Millionen von Menschen aus der Armut herausholen...

Heidi Reichinnek (Linke) ...

... findet es schlimm, dass im  zuständigen Ausschuss nur noch über Waffenlieferungen diskutiert wird: Diese lehne sie grundsätzlich ab und habe mit der Linken das auch kürzlich in zwei Abstimmungen über Waffen im Milliardenwert  so gehandhabt. Das gesellschaftliche Klima sei mittlerweile so unerträglich vergiftet, dass Kritiker und Skeptiker gegenüber  westlicher Aufrüstungs- und Eskalationspolitik völlig undifferenziert als Putin-hörig disqualifiziert würden. Sie stellt - bezüglich eines Punktes in den Äußerungen von Peter Brandt - die zweifelnde Frage, ob es möglich sei, die Nato  in ihrer Struktur so umzubauen, dass sie unter Einschluss von Russland zu einem Instrument europäischer kollektiver Sicherheit werden könne. Eine Osnabrücker kommunalpolitische Entscheidung kritisiert Reichinnek als völlig falsch: nämlich die Städtepartnerschaft mit Twer zu unterbrechen. Stattdessen gelte es, alle Brücken nach Russland zu nutzen und nicht abzubrechen - und die EU hätte den Lula-Vorschlag unterstützen müssen...

 

Während auf Nachfrage Gava erklärt, er würde bei einer Abstimmung im Bundestag die Verdoppelung der vor allem militärischen Unterstützung auf 8 Mrd. Euro dafür stimmen, spricht sich Reichinnek klar dagegen aus, auch gegen die derzeitigen 4 Mrd. Euro.