Balkan / Ex-Jugoslawien
Leserbrief zur NOZ vom 19. Oktober 2023
Menschliches Leid ist teilbar!
Jedenfalls scheint es nach aktuellen Äußerungen und Berichterstattungen zum eskalierenden Krieg im Nahen Osten so zu sein.
NOZ vom 19. 10. 2023, S. 21 im Artikel „Meinungsfreiheit oder Volkshetze?“, dort ist zu lesen: „Am kommenden Wochenende gedenken Zehntausende Menschen und alle Spieler der Fußball-Bundesliga, 2. Bundesliga und der 3. Liga in den Stadien der Opfer des terroristischen Angriffs der Hamas auf israelische Zivilisten.“ Gut, nachvollziehbar, begrüßenswert, meine volle Unterstützung.
Und? – Warum gedenkt man nicht entsprechend auch der mittlerweile mehreren tausend getöteten Menschen in Gaza? Ist menschliches Leid doch teilbar? Die guten Opfer, die schlechten Opfer, die einen sind selbst schuld, die anderen unschuldig? Falsche Hautfarbe, Nationalität oder Religion? Gehören sie zur falschen Seite, zum falschen Bündnis? Oder spielt eine Rolle, wer getötet hat?
Bei den mehreren hundert Toten nach der Explosion bei einer Klinik in Gaza – unabhängig, wer dafür verantwortlich ist – konnte sich der US-Präsident gerade mal abringen, er sei „sehr betrübt“ über die Explosion (S. 1).
Dieser Umgang mit menschlichem Leid ist beschämend und unwürdig – leider ist es kein Einzelfall. Für jeden Krieg der letzten Jahrzehnte, ob im Irak, in Afghanistan, gegen Kurden, in Syrien oder sonst wo. Überall findet sich dieses Muster des Umgangs mit menschlichem Leid.
Bei dem Krieg Russlands gegen die Ukraine wird über Opfer in der westlichen Ukraine, die auf russischen Beschuss zurückzuführen sind, ausführlich und empathisch berichtet. Auf der Seite östlich der Front, dem russisch besetzten Gebiet der Ukraine, scheint es keine menschlichen Opfer zu geben. Was passiert mit den abertausenden von Geschossen etc., die die westliche Wertegemeinschaft an die Ukraine zur Selbstverteidigung liefert? Werden sie nicht verschossen, treffen sie nicht auch unbeteiligte Menschen?
Man kann sich das vielleicht schönreden „chirurgische Schläge“, „waren alles Terroristen, Soldaten“ usw. Aber so sind Kriege nicht, sie sind auf allen Seiten unmenschlich und brutal. Es gibt keine guten Bomben oder schlechte Bomben – alle töten Menschen und verursachen Leid. Es handelt sich letztlich um Doppelmoral – auch auf Seiten der westlichen Wertegemeinschaft.
Zu Recht sind wir entsetzt und reagieren mit Abscheu auf Jubelkundgebungen in Deutschland oder anderen Ländern als Sympathiebekundungen für den terroristischen Anschlag der Hamas. Diese Verherrlichung der Ermordung von anderen Menschen ist nur eine der letzten Stufen eines Entwicklungsprozesses. Dieser Prozess fängt damit an, Opfer gar nicht erst zu sehen, wahrzunehmen, sie zu negieren, ihr Leid mit Nicht-Beachtung zu strafen. Weitere Stufen sind dann die Schuldzuweisungen „sind selbst schuld“, „gehören zum gleichen Volk“, „haben sich nicht abgegrenzt“ etc. Dann folgt die Entmenschlichung, Menschen „der anderen Seite“ als Tiere o.ä. zu bezeichnen und ihre Tötung zu rechtfertigen.
Indem wir die Opfer und das menschliche Leid „der anderen Seite“ nicht sehen, stehen wir am Anfang des Weges, an dessen Ende auch der Terrorismus und seine Sympathisanten stehen.
Deshalb: Menschliches Leid ist unteilbar! Wir gedenken und zeigen Empathie für die Opfer auf beiden Seiten.
Mir ist verständlich, dass die Angehörigen, Freunde und Verwandten von Opfern auf Grund ihrer emotionalen Beziehung oft nicht in der Lage sind, auch das Leid der Menschen „auf der Gegenseite“ zu sehen. Für uns aber gilt trotz Bündnistreue und Staatsräson Grundgesetz § 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ und dazu gehört auch das Leid der Opfer.